Zum Leben von Gerhard Reisch und zu seinem Werk

 

Am 19. Januar 1899 wurde Gerhard Reisch in Grünberg in Schlesien als jüngstes Wunschkind nach seinen zwei Schwestern und seinem Bruder geboren. Sein Vater lebte als Getreidehändler, Bäcker und Wassermühlenbesitzer vor der Stadt mit etwas Landwirtschaft und Viehzeug. So wuchs er inmitten behüteter Natur auf. Beide Eltern waren sehr fromm; so gab es täglich morgens und abends eine Hausandacht. Alle Kinder waren musikalisch begabt und spielten Klavier, Harmonium und Geige im Hause; seine Mutter war sangesfreudig. In seinem 4. Lebensjahr wurde er dank der Rettung durch seinen Bruder vor dem Ertrinken im Mühlgraben bewahrt. An seinem 4. Geburtstag schaute er auf die schneebedeckte Landschaft und träumte, dass er Maler werden würde.

 

 

 

Sein Vater starb mit 56 Jahren (1908) an sehr schwerer Arbeit. Seine Mutter führte mit den zwei Töchtern das Geschäft durch den Weltkrieg bis 1919 weiter. Wie sein Bruder ging er durch die Lehrerbildung in Freystadt und Sagan, was für ihn infolge des abstrakten Lernstoffes eine Leidenszeit war. Die Ausbildung wurde 1917 durch Heeresdienst bei der Feldartillerie in Königsberg und Gumbinnen in Preussen unterbrochen. 1918 nahm er an einer Offensive in Frankreich teil. Dort hatte er im Schützengraben ein tiefgreifendes inneres Erlebnis, das ihm einen entscheidenden und richtungweisenden Anstoss zum Erforschen tiefster Lebensfragen gab.

 

 

 

 

 

Nachdem er 1919 seine Lehrerausbildung abgeschlossen hatte, wurde er Hilfsarbeiter im Braunkohlenbergwerk Grünberg. Mit erspartem Geld für zwei Monate ging er dann im November 1921 seiner künstlerischen Berufung nach, indem er sein Studium auf der Kunstakademie Breslau anfing. Oft wurde er zu den Mahlzeiten mit den Stadtbettlern in der Stadtküche eingeladen. Während der Ferien erfüllte er kleine Aufträge (Federzeichnungen) für eine Zeitung. 1926 schloss er das Studium ab, zusammen mit seiner heimlichen Verlobten Editha Gröger (1902-1968), die er 1927 heiratete.

 

 

 

 

 

Die damaligen ungünstigen äusseren Verhältnisse konnten jedoch nie seinen innersten Drang nach Erkenntnis beeinflussen. So fand er schon 1923 seinen Weg zur Anthroposophie Rudolf Steiners. Nachdem er einen Verlust seiner künstlerischen Fähigkeiten durchlitt, begann er auf Anraten von Max Wolffhügel (1880-1963) im Januar 1927 erneut mit der meditativen Durchführung einfacher Übungen in Kohle und Farbe. Sehr bald erlebte er Fortschritte, ein innerliches Hellerwerden und das Erwachen neuer Fähigkeiten. Bis etwa 1934/35 unternahm er künstlerische Materialstudien, um neue technische Möglichkeiten für eine neue Malerei zu erfinden.

 

 

 

Mit grosser Ehrfurcht begegnete Gerhard Reisch 1930 einem geistigen Mentor in Kurt Walther (1874-1940), der ihm im Hinblick auf die zu erwartenden schweren Zeiten riet, ein Haus zu bauen. Diesem Rat zufolge baute er – selbst beteiligt an aller Arbeit – zusammen mit Frau Editha 1932 ein kleines Landhaus auf einem Hügel am Waldrand vor Grünberg, das schon im Herbst die ersten Gäste beherbergen konnte. Das Haus wurde ausgebaut, der Garten angelegt, Bilder gemalt, Freunde betreut. Frau Editha war frohgemut und kraftvoll. Es gab fast das ganze Jahr über Besuch, und allmählich entfaltete sich eine fruchtbare geschützte Zeit durch zwölf Jahre bis 1944/45.

 

 

 

Im Oktober 1932 nahm Gerhard Reisch eine Einladung zu einer Ausstellung im Rijksmuseum in Delft an und wurde durch Aufträge bis Anfang April 1933 so lange in den Niederlanden aufgehalten, dass er sich ernsthaft überlegte, sich dort niederzulassen, was er jedoch nicht tat. Schon 1933/34 entstanden Bilder innerer Seelenzustände. Der Tod seiner Mutter 1935 erschütterte ihn zutiefst, aber er erlebte weiterhin innerlich ihre Begleitung. 1936 begann „die grosse Wanderung“ in geistigen Welten wie auch auf Erden. Bis 1944 unternahm er jährlich zwei Reisen, jeweils über drei bis vier Wochen, mit etwa 150 Bildern, u. a. nach Breslau, Liegnitz, Hirschberg, Dresden, Berlin, Königsberg und Hamburg.

 

 

 

 

 

Februar 1945 kam der Einmarsch der Russen. Das Landhaus mit dem gesamten Werk (etwa 200 Bilder) wurde vernichtet. Gerhard Reisch wurde auf einer vier Wochen dauernden Fahrt in einem zugenagelten Wagen fast ohne Verpflegung nach Dnipropetrowsk (Ukraine) zu einem neun Monate langen Aufenthalt im Lager verschleppt. Die meisten seiner Leidensgenossen erkrankten und verhungerten. Nach einer vier Wochen langen Rückfahrt im offenen Wagen abermals fast ohne Verpflegung wurde er Oktober 1945 in Frankfurt an der Oder entlassen. Bei Regen und Nebel ereichte er Berlin am 1. November und ging direkt zu Frau Walther (geb. Selling) in die Motzstrasse 17 (wo auch Rudolf und Marie Steiner von 1903-1923 lebten). Von dort aus fand er den Weg zu seiner Frau Editha in ein kleines entlegenes Dorf in Mecklenburg „in Lumpen, ohne Geld, ohne Nahrung ... dort beinahe vor Entkräftung gestorben“.

 

 

 

 

 

Gerhard Reisch widersetzte sich nicht seinem Schicksal, sondern ging den „unbequemen, steilen Weg“, der ihn immer weiter in die geistigen Welten führte. Er überstand trotz geschwächter Körperlichkeit schwerste Strapazen. Daher gingen sie nach Wittenberg zu seiner Schwester, wo er als Buchbindergehilfe arbeitete, dann weiter nach einem Vorort von Berlin, Hunger und Kälte erlebend. Freunde baten ihn, mit ihnen zu arbeiten. Sylvester 1948/49 entstanden die ersten Hüter-Bilder. Äusserlich erlebten sie tiefstes Elend. 1950 gingen Gerhard und Editha nach Kaiserdamm, um dort die anthroposophische Arbeit aufzubauen: Geheimwissenschaft im Umriss, Theosophie, Grundlinien, Mysteriendramen sowie die sonntägliche Arbeit mit seinen Bildern. Wiederum jährlich fanden die Reisen nach Westdeutschland mit den Bildern statt. 1956 folgte eine gefährliche Lebenskrise als Folge der Verschleppung.

 

 

 

 

 

Einem Vorschlag von Ernst Lippold (1913-1996) folgend, siedelten sie 1960 nach Freiburg über. Durch die ständige Förderung einiger Freunde entfiel endlich die Sorge um die wirtschaftliche Grundlage. In seinem Leben hat Gerhard Reisch etwa 30 Mal seinen Wohnort und seine Wohnung gewechselt. 1962 führte die Verschiedenartigkeit der Wege von Gerhard und Editha schliesslich in beiderseitigen Einvernehmen zu ihrer Trennung. Sie zog nach Mannheim, und im Mai 1968 ging sie in München über die Schwelle.

 

 

 

 

 

Durch die fortgesetzten vielen Begegnungen und Lehrtätigkeiten fand Gerhard Reisch nicht die nötige Ruhe, um sein künstlerisches Werk auszugestalten. Auch erlebte er grösste Einsamkeit. AnneGret Helmut (1926-2006), die er in Grünberg als Schulmädchen gekannt hatte, erschien wieder in Freiburg und setzte sich restlos für seine Angelegenheiten ein. Sie hatte seit Grünberg auch Schwerstes durchgemacht und war so als seine zweite Lebensgefährtin zu dem grössten Opfern, die sein Weg forderte, bereit. 1965 zog das Ehepaar zu AnneGrets Vater in Waldkirch. Nun konnte das ganze malerische Werk, das nur mehr skizzenhaft vorlag, ohne Störungen neu gestaltet werden.

 

 

 

 

1970 überwand Gerhard Reisch abermals eine schwere Erkrankung, mit stetiger Begleitung von AnneGret – unter schwierigsten Verhältnissen, während auch ihr Vater im Sterben lag. Danach beschäftigten sie sich hauptsächlich mit der Herausgabe von Teilen aus seinen Aufzeichnungen in Verbindung mit farbigen Wiedergaben entsprechender Bilder, wie Aus der Welt der Elementarwesen, Ein Erkenntnisweg in Bildern und Ein Totenbuch.

Es wuchs sein Lebenswerk zu schönster Vollendung. Unerkannt, in Stille und Bescheidenheit, verehrt von vielen Freunden, die Menschen liebend und mit ihnen leidend, nur auf den Christus schauend, ging Gerhard Reisch am 11. Februar 1975 in die geistige Welt.

 

 

 

 

Nun kamen zunehmend Menschen, die eine Begegnung mit dem Schaffen der Individualität suchten und mit seinen Bildern arbeiten wollten, denn der menschen-bildende Charakter seines Lebenswerkes – obwohl geborgen – ist nicht verborgen geblieben. Ein Freund stellte sein Haus in der Eichbergstrasse in Freiburg zur Unterbringung des Werkes zur Verfügung. Obwohl AnneGret nicht gewohnt war, mit weltlichen Dingen umzugehen, bemühte sie sich, alle Interessen in Harmonie zu verbinden. Erst allmählich wuchs sie in die neue Aufgabe hinein und wurde immer mehr als Bezugsperson für das Werk von Gerhard Reisch erlebt.

 

 

 

 

 

1981 gründete AnneGret die Gerhard Reisch Stiftung, um sein Gesamtlebenswerk für die Zukunft zu schützen. Die folgenden Jahre waren weiterhin gekennzeichnet von einem Ringen unter den Freunden um das Werk. Immer wieder fanden neue und alte Freunde zum Werk, die sich bemühen wollten, sein Lebenswerk der Welt zu vermitteln. 1998 erfüllte sich AnneGret ihren Wunsch, an den Bodensee nahe Meersburg zu ziehen. Nach der 100. Geburtstagsfeier von Gerhard Reisch mit einer grossen Ausstellung im Albertus-Magnus-Haus in Freiburg 1999 folgte sein Nachlass ihr nach. AnneGret Reisch begleitete alle neuen Entwicklungen um das Lebenswerk von Gerhard Reisch als Mitglied des Vorstands bis zu ihrem Lebensende im September 2006.

Nun kommt einer der letzten Wünsche von AnneGret Reisch in Erfüllung: die Wiederherausgabe der Mappe Aus der Welt der Elementarwesen.

Aus dem Archiv der Gerhard Reisch Stiftung